Deutschland 1967–1968
Rechtsbeugung
Volksgerichtshof
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Der Prozess gegen Hans Joachim Rehse
Deutschland 1967–1968
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der “Rehse-Prozess” steht beispielhaft für die gescheiterte Aufarbeitung von NS-Justizunrecht, er versinnbildlicht den “Freispruch für die Nazi-Justiz” (Friedrich). In den Jahren 1967/68 musste sich der ehemalige Richter am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse für sieben der von ihm unterzeichneten 231 Todesurteile verantworten. Bis zu diesem Zeitpunkt war kein Richter oder Staatsanwalt des Volksgerichtshofs, der Kriegsgerichte oder der Sondergerichte von der westdeutschen Justiz zur Rechenschaft gezogen worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft betrachtete das Verfahren als einen Pilotprozess, dem weitere Anklagen gegen ehemalige Angehörige des Volksgerichtshofs folgen sollten. Das LG Berlin verurteilte Rehse am 3.7.1967 wegen Beihilfe zum Mord bzw. Beihilfe zum versuchten Mord zu fünf Jahren Zuchthaus. Auf Revision des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hob der BGH das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des LG Berlin zurück. Nach acht Verhandlungstagen wurde Rehse am 6.12.1968 freigesprochen. Die hiergegen eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft erledigte sich durch Rehses Tod im Herbst 1969.
2. Personen (biographische Angaben)
a) Der Angeklagte
Rehse wurde 1902 in Prenden, Landkreis Barnim, als Sohn eines Pfarrers geboren. Er bestand die Juristischen Staatsexamina mit gutem Erfolg und durchlief im Anschluss eine erfolgreiche Justizkarriere, die ihn bis zur Ernennung zum Kammergerichtsrat führte. Am Volksgerichtshof arbeitete Rehse zunächst als Ermittlungsrichter, 1941 folgte die Einsetzung als “Hilfsrichter”. Er amtierte als beisitzender Richter im 1. Senat des Volksgerichtshofs, dessen Vorsitzender Roland Freisler war. Rehse gehörte früh rechtskonservativen Organisationen an, zunächst der Bismarck-Jugend, ab 1925 der DNVP. Der Eintritt in die NSDAP erfolgte im Mai 1933. Nach dem Krieg war Rehse ab 1956 in Schleswig-Holstein erneut als Richter tätig. Er verstarb im September 1969 in Schleswig.
b) Der Verteidiger
Die Verteidigung Rehses übernahm der Berliner Rechtsanwalt Dietrich Scheid, der in den 1960/70er Jahren in weiteren Aufsehen erregenden Verfahren in Erscheinung trat. So fungierte er 1968 im Strafprozess gegen Horst Mahler wegen der Demonstrationen vor dem Springer-Verlag als Zeugenbeistand von Axel Springer. Für die Witwe des sozialistischen Widerstandskämpfers Georg Groscurth erstritt Scheid gemeinsam mit den Anwälten Kaul (Ost-Berlin) und Heinemann jr. (Essen) die Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus. Groscurth war 1943 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden, das Urteil trägt die Unterschriften von Freisler und Rehse.
c) Das Gericht
Das LG Berlin verhandelte nach der Zurückverweisung durch den BGH unter dem Vorsitz des 42-jährigen Kammergerichtsrats Dr. Oske. Beisitzende Richter waren die Landgerichtsräte Olowson und Weiß, sechs Geschworene vervollständigten die Richterbank.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Deutsche Richter verhängten im Dritten Reich rund 35.000 Todesurteile, hiervon entfielen 16.000 auf Kriegsgerichte, 11.000 auf Sondergerichte, 5000 auf den Volksgerichtshof sowie 3000 auf Standgerichte während der letzten Kriegsmonate. Die Bilanz der Aufarbeitung des NS-Justizunrechts kommt einer “Bankrotterklärung” (Spendel, S. 18) gleich. So wurden in Westdeutschland bzw. in den Westzonen lediglich zwei Berufsrichter sowie eine Handvoll Offiziere und Ankläger wegen ihrer Urteilssprüche strafrechtlich belangt. Die Urteile ergingen wenige Jahre nach 1945 und betrafen ausschließlich Standgerichtsverfahren der letzten Kriegsmonate. Der entscheidende Grund für die Freistellung der NS-Richter lag in der restriktiven Interpretation des Rechtsbeugungstatbestandes (§ 336 StGB d.F.) durch die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz. Als richtungweisend erwies sich ein Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahre 1956. Hiernach kam eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung nur dann in Betracht, wenn der Richter sicher wusste, dass er das Recht brach (BGHSt 10, 294). Abzustellen war ausschließlich auf die Perspektive der damals Handelnden. Konnte ein solcher Vorsatz – wie stets – nicht nachgewiesen werden, so schied auch eine Verurteilung wegen Mordes, Totschlags oder Freiheitsberaubung aus (sog. “Sperrwirkung der Rechtsbeugung”). Das Verfahren gegen Rehse stellte nach einem Generationenwechsel innerhalb der Justiz den Versuch dar, zu einer juristischen Neubewertung von NS-Justizunrecht zu gelangen. Die Berliner Staatsanwaltschaft führte zu diesem Zeitpunkt nicht weniger als 35 Ermittlungsverfahren gegen 63 Angehörige des Volksgerichtshofs. Die erste Anklage, das Verfahren gegen Rehse, galt als aussichtsreichster Fall.
4. Anklage
Gegenstand der Anklage waren sieben von Rehse mitunterzeichnete Todesurteile des 1. Senats des Volksgerichtshofs. In den Verfahren ging es überwiegend um skeptische Äußerungen über die Kriegslage oder um abfällige Äußerungen über NS-Größen. In einem dieser Fälle hatte ein Museumsleiter 1943 gegenüber einer Jugendfreundin erklärt, Deutschland trage die Schuld am Krieg, jetzt befänden sich die Truppen überall auf dem Rückzug, in vier Wochen sei es aus mit der Partei. In einem anderen Fall äußerte sich ein katholischer Geistlicher gegenüber einem Handwerker skeptisch zur Kriegslage und erzählte leichtsinnigerweise einen politisch-theologischen Witz, der Hitler und Göring als Schwerverbrecher erscheinen ließ. Sowohl der Museumsdirektor als auch der Geistliche waren von ihren jeweiligen Gesprächspartnern an die Gestapo denunziert worden. Die Todesurteile ergingen auf Grundlage von § 5 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (“Wehrkraftzersetzung”) bzw. § 91 b RStGB (“Feindbegünstigung”). Die Staatsanwaltschaft bewertete Rehses Verhalten als Mord bzw. versuchter Mord. Die “Sperrwirkung der Rechtsbeugung” sollte Rehse nach Auffassung der Anklage nicht zu Gute kommen. Gustav Radbruch hatte die von ihm unmittelbar nach dem Krieg kreierte Rechtsfigur mit dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit begründet: “Denn das Urteil des unabhängigen Richters darf Gegenstand einer Bestrafung nur dann sein, wenn er gerade den Grundsatz, dem jene Unabhängigkeit zu dienen bestimmt war, die Unterworfenheit unter das Gesetz, d.h. unter das Recht, verletzt hätte”. Bei dem Volksgerichtshof aber, so die Anklage, handelte es sich nicht um ein unabhängiges Gericht, sondern ein reines Terrorinstrument im Dienste der nationalsozialistischen Machthaber.
5. Verteidigung/Konzept der Verteidigung
Die Verteidigung plädierte auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung auf Freispruch. Rehse habe ohne Unrechtsbewusstsein und Rechtsbeugungsvorsatz gehandelt. Das ganz auf die tradierte Judikatur aufbauende Verteidigungskonzept wurde durch eine Anleihe an die sog. “extrem-subjektive Teilnahmelehre” ergänzt. Trotz eigenhändiger Tatbegehung war hiernach als bloßer Gehilfe zu bestrafen, wer die Tat nicht im eigenen Interesse beging, sondern als Befehlsempfänger für andere. Unter Anwendung dieser “Theorie” blieben die Massenverbrechen des Dritten Reiches weitgehend “ohne Täter”. Sowohl den unmittelbar Ausführenden als auch den im Hintergrund agierenden Organisatoren fehlte hiernach der “Täterwille”, sie mutierten in den Augen der Rechtsprechung zu bloßen “Gehilfen”. Auch Rehse, so die Verteidigung, könne allenfalls Gehilfe sein, da er sich während seiner Tätigkeit am Volksgerichtshof lediglich dem alles beherrschenden Täterwillen Freislers untergeordnet habe. Rehse selbst machte in der Verhandlung geltend, alle sieben Urteile hätten seiner damaligen Überzeugung entsprochen. Defaitismus musste gerade nach den militärischen Rückschlägen seit 1943 mit aller Schärfe bekämpft werden. Seine Urteile ergingen aus “rein sachlichen Erwägungen”, um den Bestand des gefährdeten Reichs zu sichern. Er habe lediglich seinerzeit geltendes Recht angewandt, an das er sich als Richter gebunden fühlte.
6. Urteil
Der BGH verwarf in seiner Revisionsentscheidung die Übertragung der “extrem-subjektiven Teilnahmelehre” auf Urteile von Kollegialgerichten. Wer als Richter eine Entscheidung mittrage, könne niemals bloßer Gehilfe sein. Das LG Berlin gelangte nach der Zurückverweisung durch den BGH zu einem Freispruch Rehses. In seiner Begründung bewertete es § 5 Kriegssonderstrafrechtsverordnung und § 91 b RStGB zunächst als seinerzeit gültiges Recht. Sodann prüften und begründeten die Berliner Richter die Verletzung von NS-Recht durch die damaligen Angeklagten weitaus gründlicher und gewissenhafter, als es Freisler in seinen kursorisch-polemischen Urteilsbegründungen jemals getan hatte. Die Aussagen der Angeklagten erfüllten hiernach objektiv die Tatbestände der “Wehrkraftzersetzung” und der “Feindbegünstigung”; insoweit bestand zwischen Volksgerichtshof und Landgericht Berlin Einigkeit. Allerdings erachtete das LG Berlin den Ausspruch der Todesstrafe in den angeklagten sieben Fällen als unverhältnismäßig. Trotz der überharten und damit rechtswidrigen Urteilssprüche scheitere die Verurteilung Rehses an den hohen Vorsatzanforderungen. In Fortführung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hielt das LG Berlin eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung nur bei einer bewusst fehlerhaften Anwendung von NS-Recht für möglich: “Ein Richter kann nur dann bestraft werden, wenn er (…) wider bessere Überzeugung die Todesstrafe verhängte. Das ist dem Angeklagten (…) nicht nachzuweisen”. Rehse habe vielmehr im Einklang mit der Auffassung des Reichsgerichts und des Reichsjustizministeriums geurteilt. Beim Volksgerichtshof handele es sich, so die notorische abschließende Feststellung des LG Berlin, “um ein unabhängiges, nur dem Gesetz unterworfenes Gericht”, so dass Rehse die “Sperrwirkung der Rechtsbeugung” zu Gute kam und eine Verurteilung wegen anderer Straftatbestände ausschied.
7. Wirkung
Unmittelbare Folge des Berliner Richterspruchs waren Protestaktionen und eine nahezu geschlossene Ablehnung seitens der Presse. Zu Recht wurde darauf verwiesen, dass auf Grundlage des Urteils selbst Freisler hätte freigesprochen werden müssen. Die Studentenbewegung sah sich in ihrem Urteil über das westdeutsche Justizsystems bestätigt, wofür Friedrich Christian Delius´ Roman “Mein Jahr als Mörder” ein eindrucksvolles literarisches Zeugnis gibt. Nach dem Scheitern des Pilotprozesses verzichtete die Berliner Staatsanwaltschaft aufgrund fehlender Verurteilungswahrscheinlichkeit auf weitere Anklagen gegen Angehörige des Volksgerichtshofs. Weitere Jahrzehnte vergingen, ehe Politik und Justiz zu einer Neubewertung gelangten. In einer Entschließung aus dem Jahre 1985 bezeichnete der Deutsche Bundestag den Volksgerichtshof als bloßes “Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft” (BT-Drs. 10/2368), das “Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile” aus dem Jahre 1998 hob schließlich sämtliche Urteile des Volksgerichtshofs auf (Bundesgesetzblatt Tl. 1, 2501). Der BGH hatte bereits zuvor, im Zuge der Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht, selbstkritisch eingeräumt, dass seine frühere (nunmehr aufgegebene) Auslegung des Rechtsbeugungsparagraphen zu einer ungerechtfertigten Freistellung der NS-Justiz geführt habe (BGHSt 41, 317, 339). Der Rechtsprechungswandel machte zugleich den Weg frei für die Aburteilung von DDR-Richtern.
8. Würdigung
“ ‘Rehse’ ” ist die Personifizierung des in der Bundesrepublik gescheiterten Versuchs (…) über die Morde der Vergangenheit zu richten” (Mauz, S. 56). Grund für das Scheitern war der fehlende Verfolgungswillen der Nachkriegsjustiz, als Hebel dienten rechtsdogmatische Figuren. Für die Straflosigkeit von NS-Richtern sorgten Konstrukte wie die “Sperrwirkung der Rechtsbeugung” und das behauptete Erfordernis eines direkten Vorsatzes für Rechtsbeugung. In anderen Bereichen ermöglichte die “extrem-subjektive Teilnahmelehre” milde Urteile gegen NS-Täter. Diese und andere dogmatische Figuren entstanden nicht, wie im universitären Lehrbetrieb bis heute vielfach suggeriert, als Frucht “reiner” logischer Deduktion, sondern aufgrund handfester rechtspolitischer Interessen. Dass es einen anderen Weg gegeben hätte, veranschaulicht die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone. Der OGH hatte unmittelbar nach 1945 kein Problem darin gesehen, NS-Richtern für ihre Unrechtsurteile Vorsatz zuzuschreiben: “Wo es um die Verursachung einer Unmenschlichkeit geht, kann sich niemand damit entlasten, er habe das nicht erkannt, er sei blind dafür gewesen” (OGH, Urt. V. 7.12.1948). Einer Auffassung, der sich der Bundesgerichtshof erst Jahrzehnte später – und damit post festum – anzuschließen vermochte.
9. Literatur
Urteil des LG Berlin vom 6.12.1968, in: Jörg Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz. Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, 1998, S. 597 ff. – Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, 2002, S. 386 ff.; Arnd Koch, Zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes nach Systemwechseln, ZIS 2011, S. 470 ff.; Gerhard Mauz, Die großen Prozesse der Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 35 ff.; Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105–108; Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984; Thomas Vormbaum, Die “strafrechtliche Aufarbeitung” der nationalsozialistischen Justizverbrechen in der Nachkriegszeit, S. 142–168, in: Görtemaker/Safferling (Hrsg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, 2. Aufl. 2013.
Arnd Koch / Margaretha Bauer
August 2013
Arnd Koch ist seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Risiko- und Präventionsstrafrecht sowie Juristische Zeitgeschichte an der Universität Augsburg und Mitherausgeber des Lexikons für politische Strafprozesse. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte des Strafrechts im 19. und 20. Jahrhundert.
Margaretha Vordermayer (geb. Bauer) ist promovierte Historikerin und arbeitet in leitender Funktion als wissenschaftliche Bibliothekarin an der Ludwig Maximilian Universität München. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg und Redakteurin des Lexikons für politische Strafprozesse.
Zitierempfehlung:
Bauer, Margaretha/ Koch, Arnd: „Der Prozess gegen Hans Joachim Rehse, Deutschland 1967–1968“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, 2013, www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/rehse-hans-joachim/#more-46, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.